Breul, Prof. Dr. Wolfgang, FB 01, Evangelisch-Theologische Fakultät, Kirchen- und Dogmengeschichte.
Die Missionsprojekte der Herrnhuter Brüdergemeine im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert als ein transnationales Gegenmodell
Die Herrnhuter Brüdergemeine gehört zweifelsohne zu den interessantesten religiösen Neubildungen des 18. Jahrhunderts in Mitteleuropa. Sie hat insbesondere wegen ihrer theologischen Neubestimmung des Geschlechterverhältnisses (Breul/Salvadori 2014, 191-227, 267-272; Atwood 1997; Faull 2013; Breul 2010, 406-415), einem Verständnis von Mission, das die kulturelle und soziale Identität ihrer Adressaten in einem für das 18. Jh. beachtlichen Maß akzeptierte (Wessel 1999; Wheeler 2013; Olsthoorn 2010 u.a.), und einer Reihe neuer religiöser Praktiken und Gottesdienstformen (Schatull 2005 u.a.) in den letzten beiden Jahrzehnten die gesteigerte Aufmerksamkeit der Forschung gefunden. Zu den hervorstechenden Merkmalen der Herrnhuter Brüdergemeine gehören ihr hohes Maß an Mobilität und Aktivität, verbunden mit einer interkonfessionellen Ausrichtung und dem Verzicht auf die Ausbildung einer eigenen Konfessionalität.
Mobilität und interkonfessionelle Orientierung der Herrnhuter gründen in einem theologischen, genauer: ekklesiologischen und eschatologischen Konzept, das wesentlich von der englischen Philadelphier-Bewegung geprägt ist (Schneider 2006, Aalen 1966, Nielsen1952-1960, Thune 1948). Diese Vorstellungen basieren auf einer heilsgeschichtlichen Deutung der Sendschreiben der Johannesoffenbarung (Apk 2f.) und erwarten die endzeitliche Sammlung der wahren Kinder Gottes aus allen Richtungen, das Ende der Konfessionskirchen („Religionsparteien“) und die Zeit der Bruderliebe (philadelphia). Nach Auffassung der Philadelphier besteht die wahre Kirche in der Gegenwart in den in allen Konfessionen zerstreuten Kindern Gottes, die in der „Bruderliebe“ miteinander verbunden sind. Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Gründer und prägender Theologe der Brüdergemeine, hat dieses radikalpietistische Konzept modifiziert und moderiert, indem er den bestehenden christlichen Konfessionen eine befristete Existenzberechtigung und nützliche Funktion für die wahren Kinder Gottes zuerkannte. Nach seiner Auffassung sollen die gegenwärtig in allen Konfessionen und Völkern lebenden wahren Christen durch Gemeinschaftsbildung, Seelsorge und Kommunikation miteinander verbunden werden – im Vorgriff auf die endzeitlich versammelte Brautgemeinde Jesu Christi. Dem dienen die Mission der Herrnhuter Brüdergemeine unter den nichtchristlichen Völkern und die Diasporaarbeit in den christlichen Regionen des Deutschen Reichs und Europas.
Auch in den Kategorien des 18. Jahrhunderts war die Herrnhuter Brüdergemeine in ihrer religiösen Begründung und praktischen Ausrichtung eine ausgesprochen transnationale bzw. transregionale Gemeinschaft. In den von der Brüdergemeine gesuchten Begegnungen mit anderen Konfessionen und Ethnien wurden kulturelle und vor allem religiöse Besonderheiten respektiert, soweit sich die Angesprochenen für eine emotionale Christus-Beziehung („Heilandsliebe“) offen zeigten. Politische Grenzen spielten eine Rolle, insofern die geltenden obrigkeitlichen Bestimmungen von den Herrnhutern in aller Regel respektiert wurden. Untersagten sie z.B. explizit Aktivitäten der Brüdergemeine, so zogen sich die Herrnhuter zurück oder passten ihre Handlungen entsprechend an. Politischen Konflikten, wie sie z.B. im kolonialen Nordamerika um die Sklaverei entstanden, suchten die Herrnhuter auszuweichen.
Das Forschungsvorhaben zielt einerseits darauf, die theologischen Grundlagen der transnationalen Ausrichtung der Arbeit der Brüdergemeine im Vergleich mit anderen Strömungen und Gruppen des 18. Jahrhunderts zu untersuchen. Zum Vergleich könnten die auf eine weltweite Reform ausgerichtete Konzeption des Halleschen Pietismus unter August Hermann Francke, die vor allem in England wirksamen Konzeptionen der Philadelphier und der „Church Universal“ (Heinrich Wilhelm Ludolf) sowie der Aufklärung herangezogen werden. Andererseits soll Bedeutung und Praxis dieser Ausrichtung in der Arbeit der Brüdergemeine in ihren transnationalen Organisationsformen und Kommunikationsmedien (Mettele 2009), im Einfluss von nationalen und regionalen, ethnischen und religiösen Prägungen auf ihre Missions- und Diasporaarbeit und im Niederschlag der grenzüberschreitenden Arbeit in exemplarischen Lebensläufen unterschiedlicher Provenienz der Brüdergemeine analysiert werden. Der Schwerpunkt soll dabei auf der Diasporaarbeit gelegt werden, für die es bislang keine umfangreichere neuere Untersuchung gibt. Sie führte Angehörige der Brüdergemeine zu Kontaktaufnahmen mit Christen unterschiedlichster Konfession in ganz Europa (Rußland, Ägypten) mit Schwerpunkten im Baltikum und in Skandinavien (Diasporamission). Der Untersuchungszeitraum muss sich an der Dichte der Quellenüberlieferung orientieren, die vor allem für den Zeitraum zwischen 1760 und 1840 in großer Breite vorhanden sind. Diese Ausdehnung erlaubt es, die Reaktion der Herrnhuter auf die beginnende Bildung von Nationalstaaten in der Mitte Europas in ihrer praktischen Arbeit in politischen Konfliktsituationen und Konfliktzonen und in ihrer theologischen Theoriebildung einzubeziehen.
Zu thematisieren wären (1) konzeptionelle Schriften Zinzendorfs, seiner Mitarbeiter und Synodalberichte und -abschiede der Brüdergemeine sowie entsprechende grundlegende Schriften der o.g. Vergleichskonzeptionen (2) Diasporaberichte und -korrespondenz der Herrnhuter und ggf. kirchliche und obrigkeitliche Stellungnahmen zur transkonfessionellen und transnationalen Arbeit der Brüdergemeine und (3) exemplarische transnationale Lebensläufe der Brüdergemeine in exemplarischer Auswahl.
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