Prof. Dr. Nina Gallion

Gallion, Prof. Dr. Nina, FB 07, Historisches Seminar, Spätmittelalterliche Geschichte und Vergleichende Landesgeschichte.

Die geistlichen Höfe und die Erfindung der Germania Sacra (1450–1600)

Im Mittelpunkt des Teilprojekts steht die Betrachtung der geistlichen Fürstentümer im Spätmittelalter und in der beginnenden Frühen Neuzeit, wobei als Gegenstandsbereich konkret die geistlichen Höfe mit ihrem Personal und ihren Netzwerken sowie die ebenda produzierte Bistumsgeschichtsschreibung im Zeitraum von 1450 bis 1600 zu nennen sind. Der geographische Raum erstreckt sich auf das römisch-deutsche Reich mit seinen rund 60 Bistümern. Hinsichtlich des Forschungsstandes bestehen noch starke Defizite, was die Untersuchung der geistlichen Fürsten (etwa im Vergleich zu den weltlichen Fürsten) angeht. Dies liegt aus mediävistischer Perspektive darin begründet, dass bei der Beschäftigung mit dem Reichsepiskopat der Fokus lange Zeit auf dem Hochmittelalter lag, wohingegen die Hofforschung vor allem den Königshof in den Blick nahm und in den letzten Jahrzehnten die Höfe der weltlichen Territorialherren. Daher müssen die geistlichen Höfe als stark untererforscht gelten, was gleichermaßen auf die Bistumsgeschichtsschreibung zutrifft – und diese Beobachtungen verschlimmern sich, je weiter man sich in Richtung Norddeutschland begibt; gerade für die norddeutschen Bistümer bestehen noch erhebliche Desiderate. Diesem Forschungsstand entsprechend gibt es bislang nur sehr wenige Monographien zu den geistlichen Höfen und eine überschaubare Zahl an Einzelstudien in Aufsatzform – obwohl es im spätmittelalterlichen Reich mehr geistliche als weltliche Höfe gab. Das Teilprojekt folgt der leitenden Fragestellung, ob und wie sich an den geistlichen Höfen nationale Vorstellungen entwickelten. Methodisch bedeutet dies, dass das an den Höfen versammelte Personal und ihre Netzwerke (was auch die Domkapitel und den Stiftsadel einschließt) und die an den Höfen entstehende Geschichtsschreibung analysiert werden sollen. Wichtige Leitbegriffe stellen dabei der Humanismus und die Reformation dar, die zu den entscheidenden zeitgenössischen Strömungen zählten. Der Beginn des Untersuchungszeitraums wurde indes bewusst auf das Jahr 1450 gesetzt, um auf diese Weise prüfen zu können, ob nationale Vorstellungen auch schon im Vorfeld der Reformation existierten. Für die Untersuchung sind zwei Herangehensweisen denkbar: Zum einen können längere Zeitabschnitte für einzelne ausgewählte Bistümer betrachtet werden, um so den Entwicklungen über die Amtszeiten einzelner Bischöfe hinweg nachzuspüren. Zum anderen lädt die Auswahl einzelner Höfe verschiedener Bistümer zu einer vergleichenden Untersuchung ein. Die Relevanz des Teilprojekts für das Gesamtvorhaben besteht darin, die Geistlichkeit und ihre Rolle bei der Entstehung der Germania Sacra aufzugreifen, bedeutsame Akteure und Netzwerke zu identifizieren und die Rolle der Reformation und des Humanismus mit einem Schwerpunkt auf dem späten Mittelalter und dem 16. Jahrhundert zu beleuchten. Der Mediävist Andreas Bihrer vermutet, dass im 16. Jahrhundert die Germania Sacra erfunden worden sei, was die Thematik hochspannend für das Gesamtprojekt macht. Innerhalb der Geschichtswissenschaft ist die dezidierte Auseinandersetzung mit den geistlichen Höfen aufgrund des erwähnten lückenhaften Forschungsstands von hoher Wichtigkeit, zumal wenn man bedenkt, dass die Bischöfe zugleich Reichsfürsten waren und gerade auch die politische Rolle der Erzbischöfe nicht zu überschätzen ist. Da es im besagten Feld außerdem an vergleichenden Studien mangelt, kann das Teilprojekt einen bedeutsamen Beitrag zur Erforschung der Bischofs- und Bistumsgeschichte leisten.

Prof. Dr. Nina Gallion

Stand November 2020

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