Prof. Dr. Klaus Pietschmann

Pietschmann, Prof. Dr. Klaus, FB 07, Institut für Kunstgeschichte und Musikwissenschaft, Abt. Musikwissenschaft.

 

Stiltransfer und die Ausprägung musikalischer Idiome zwischen Italien und dem Reich im langen 16. Jh. 

Die italienische Musikgeschichte vom 15. bis zum späteren 17. Jahrhundert ist durch die Etablierung regionaler Komponenten gekennzeichnet, die im Zuge der Konfessionalisierung sowie der katholischen Reform in einen regelrechten Sog von Transferprozessen dies- und jenseits der Alpen gerieten und letztlich in die Ausprägung von Nationalstilen mündete, die die kompositorische Praxis und den ästhetischen Diskurs im 18. Jh. prägte. Die Frage, in welchem Zusammenhang die Ausprägung solcher musikalischen Idiome mit anderen Figurationen des Nationalen im frühneuzeitlichen Europa steht, soll im Vordergrund stehen - sie wurde bislang allenfalls sehr punktuell und oft bezogen auf kanonisierte „Meister“ wie Praetorius, Schütz oder Schein verfolgt. > eng verschränkt mit Fragen des Projekts von MM
Die Reflexion über regionale oder nationale Spezifika bestimmter Stilelemente wurde in der bisherigen Forschung v.a. bei Athanasius Kircher verortet, der unter dem Begriff des "Stylus impressus" die Spuren versammelt, die Landschaft, Nation und menschliches Temperament unwillkürlich in der Musik hinterlassen. Unberücksichtigt blieben Vorläufer dieser Ansätze etwa in Gioseffo Zarlinos Istituzioni armoniche von 1558/1589 oder in Nicola Vicentinos wenige Jahre zuvor erschienener Schrift L'antica musica ridotta alla moderna prattica. Während bei Zarlino eine deutliche Skepsis anklingt, dass regionale bzw. nationale Prägungen in der komponierten Kunstmusik zu einem qualitätsbestimmenden Faktor werden können, sieht Vicentino die spezifischen musikalischen Eigenheiten jeder Nation durchaus als relevant für die Komposition an, selbst wenn sie von den etablierten Regeln des Kontrapunkts abweichen, und fordert von den Komponisten sogar ausdrücklich, solche Spezifika zu berücksichtigen.
In diesen beiden Positionen spannt sich knapp hundert Jahre vor Kircher ein kontroverses Diskursfeld auf, das bis zur Antragstellung und dann im Rahmen des Teilprojekts im Rahmen einer systematischen Auswertung des musiktheoretischen Schrifttums des 16. und 17. Jh.s weiter konturiert werden soll. Dabei werden insbesondere die Begriffsentwicklung und die national bzw. regional konnotierten „maniere“ im Zentrum des Interesses stehen.
Auf dieser Grundlage sollen die stilistischen Wechselbeziehungen zwischen Italien und dem Reich einer Neubewertung unterzogen werden. Hierzu ist die digitale Erfassung und Untersuchung eines breiten Querschnitts der musikalischen Druckerzeugnisse, die im Reich hergestellt wurden bzw. verfügbar waren, vorgesehen, die erstmals die Möglichkeit bieten soll, eine zeitlich und regional gewichtete Erhebung musikalischer Stilphänomene im Reich um 1600 vorzunehmen. Dazu vorgesehen ist in einem ersten Schritt die vollständige digitale Erschließung der im deutschen Reich zwischen ca. 1590 und 1610 verfügbaren gedruckten Musik, d.h. aller im Reich erzeugten sowie in den Frankfurter Messekatalogen angebotenen italienischen Drucke, die für den entsprechenden Zeitraum nachweisbar sind, konkret gesprochen Digitalisierung der Quellen (soweit noch nicht geschehen), die normdatenbasierte Erfassung der Drucke sowie der enthaltenen Kompositionen und deren Überführung in MEI-kodierte Notentexte mittels Optical Musical Recognition. Die Vorreden sollen mit TEI erfasst und ausgezeichnet werden, um Hinweise auf musikalische Spezifika des enthaltenen Repertoires, Interessen der Widmungsträger oder mögliche Adressatengruppen mit den Untersuchungsergebnissen zu den Theoretikertexten abgleichen zu können.
Diese empirische Untersuchung soll in die Arbeitsroutinen eingespeist werden, die im Rahmen des von mir geleiteten Akademievorhabens Repertoire International des Sources Musicales mit seiner musikalischen Quellendatenbank Muscat entwickelt werden. Dieser umfangreiche kodierte Materialbestand bietet sodann die Möglichkeit der automatisierten Analyse musikalischer Parameter wie Besetzung, Textur, Kadenzformen etc., anhand derer traditionell typisch italienische Stilmerkmale festgemacht wurden. Methodisch soll an das Josquin Research Project der Stanford University angeknüpft werden, das die wesentlichen hier relevanten Analyse-Tools bereits entwickelt und open source bereitgestellt hat.
Derzeit bereite ich Fallstudien vor, die die Machbarkeit klären und die Aussagekraft der Resultate bewerten sollen. Ein solcher Ansatz, die Entwicklung regional bzw. national konnotierter musikalischer Idiome in der frühen Neuzeit mit den skizzierten Methoden zu untersuchen, wäre nicht nur innerhalb der Digital Humanities Neuland, sondern böte durch die transdisziplinäre Einbindung auch die Möglichkeit, die Verortung der Musik innerhalb national konnotierter Transferkonstellationen zwischen Italien und dem Reich im langen 16. Jahrhundert zu begreifen.

Prof. Dr. Pietschmann
November 2020

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