Jun.-Prof. Dr. Barbara Henning, FB 07, Historisches Seminar, Geschichte des Islams
Europäische Diaspora-Communities im osmanischen Reich: Selbst- und Fremdwahrnehmungen
Das Teilprojekt geht von der Annahme aus, dass es sich für die Bearbeitung der übergreifenden Frage nach Figurationen des Nationalen lohnen kann, über den jeweiligen staatlichen Rahmen und vor allem auch über die geographischen Grenzen Europas hinaus zu schauen. In den Fokus gerät so die europäische Diaspora im osmanischen Reich – verstanden als eine Kontaktzone, in der unterschiedliche Vorstellungen von Gemeinschaft und Differenz spannungsvoll aufeinandertreffen und neue Konstellationen eingehen.
Mobilität, Migration und Erfahrungen von Fremdheit bewirken, dass Fragen von Herkunft und Zugehörigkeit sich erstens im Diaspora-Kontext besonders pointiert stellen und – unter dem Eindruck von alternativen bzw. sogar konkurrierenden Modellen – von Akteuren in spezifischer Weise verhandelt werden. Diaspora ist zweitens gekennzeichnet durch die Herausforderung, dass Gemeinschaft sowie Austausch, Loyalitäten und Teilhabe über große räumliche Entfernung hinweg etabliert und organisiert werden müssen. Im Zuge der sich so ergebenden Vermittlungsprozesse und Verflechtungen zirkulieren gerade auch Ideen über Zugehörigkeit. Diskurse aus der Diaspora wirken so auch in den Herkunftskontext sowie in weitere, laterale Zusammenhänge zurück.
Um diesen beiden Dynamiken weiter nachzugehen, nimmt das Teilprojekt Auswanderer und Langzeit-Reisende europäischer Herkunft in den Blick, die im osmanischen Reich ansässig waren. Die osmanische Hauptstadt Istanbul, aber auch kosmopolitische Handels- und Hafenzentren der Frühen Neuzeit wie Aleppo oder Izmir bieten sich als regionale Fallstudien an. Dabei ist die europäische Präsenz im osmanischen Reich grundsätzlich gut dokumentiert und erforscht. Eine Auswertung des Quellenmaterials auf die Frage hin, in welcher Weise die europäischen Akteure und Communities im osmanischen Raum an Figurationen des Nationalen in den jeweiligen Heimatregionen Anteil haben oder diese in ganz neuer Weise entwickeln, steht jedoch bisher weitgehend aus.
Im Rahmen des avisierten Teilprojekts soll der Quellenzugriff produktiv von zwei Seiten erfolgen: Erstens über die Wahrnehmung der osmanischen Verwaltung und Behörden, die seit dem 17. Jh. spezielle Register (ecnebi defterleri) führten, in denen allgemeine Statusfragen der europäischen „Ausländer“ (ecnebi) ebenso behandelt werden wie Einzelfälle, in denen konkrete Konfliktsituationen und Interessenlagen innerhalb der Diaspora-Communities deutlich werden. Diese osmanisch-bürokratische Perspektive wird zweitens ergänzt durch Quellen, die Zugriff auf die Akteure in der Diaspora und ihre Vorstellungswelten und Sinngebungsprozesse ermöglichen – so z.B. Selbstzeugnisse, Briefwechsel oder auch Passagen in historiographischen Werken und Reiseberichten, in denen Aussagen über das eigene Selbstverständnis und Vorstellungen von Zugehörigkeit getroffen werden.
Beide Quellengattungen werden in einen engen Dialog gebracht, um der übergreifenden Frage nachzugehen, welche Vorstellungen von Zugehörigkeit und Ideen des Nationalen in der Diaspora kursierten und in welchem Verhältnis diese zu Konzepten und Begriffen in den jeweiligen Herkunftskontexten standen. Gefragt wird insbesondere nach Mechanismen und Medien, mit denen Verbindungen und Konnektivität zwischen diesen unterschiedlichen Kontexten geschaffen wird. Hier, so kann vermutet werden, spielen insbesondere kulturelle Manifestationen und Umsetzungen, aber auch historiographische Erzählmuster sowie Prozesse kollektiver Erinnerung eine wichtige Rolle.
Aus der Perspektive der Diaspora lässt sich die Frage nach Formationen des Nationalen somit translokal diskutieren – Prozesse, Medien und Akteure dieses grenzüberschreitenden Ideentransfers geraten ebenso in den Blick wie Reichweiten und Rückkopplungsprozesse. Der Blick aus der Diaspora ermöglicht es, frühneuzeitliche Ideen des Nationalen nicht als ortsgebundene und linear fortschreitende Entwicklung hin zu nationaler Identität in den Blick zu nehmen, sondern diesen komplexen Figurationen als einem im Wortsinn travelling discourse nachzuspüren.
Jun.-Prof. Dr. Barbara Henning
November 2020
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