Kusber, Prof. Dr. Jan, FB 07, Historisches Seminar, Osteuropäische Geschichte.
Livland, Estland und Kurland als Formationsräume von protonationalen Identifikationen in der Frühen Neuzeit (ausgehendes 16. bis 18. Jh.)
Das Herzogtum Kurland und die schwedischen, nach 1721 russischen Provinzen Estland und Livland waren in der Frühen Neuzeit Transferräume für Ideen, die durch Eliten geprägt waren, die einerseits – im Falle des Stadtbürgertums – durchaus für Mobilität und Bildung standen, andererseits für Tradition und Beharrung. Immer wieder ist in der Frühneuzeitforschung für diese drei Regionen die Idee eines „Landesbewusstseins“ konstatiert worden. Die Frage nach protonationalen Identifikation dieser deutschsprachigen Eliten ist kaum einmal gestellt worden. Sie ist Gegenstand des Projekts, wobei unter „protonational“ eine deutliche Abgrenzung der Gruppe anhand vorhandener oder imaginierter Merkmale ausgegangen wird. Der Begriff ist nicht teleologisch gedacht, schon weil es im 19. und 20. Jahrhundert nicht zur Entwicklung einer oder dreier moderner Nationen kam – im Gegensatz zu Deutschen, Letten, Esten und Russen. Die Forschungslage ist zu Estland und Livland erheblich besser als zu Kurland. Lässt sich ein protonationales Bewußtsein auf den Landtagen der Ritterschaften und bei Herrschaftsübergängen festmachen? In beiden Fällen liegen schriftliche Quellen unterschiedlicher Art vor, die einen zum Selbstverständnis geronnen Diskurs, so die These des Projekts, zeigen. Insbesondere die Herrschaftsübergänge von der schwedischen Großmacht zum Russischen Imperium schärfen diesen Diskurs in den Funktionseliten der Regionen. Stockholm, Krakau, Moskau/Petersburg sowie die norddeutschen Küstenstädte waren hier wichtige Bezugsorte. Das Projekt will der Frage nachgehen, wie und in welchem Maße sich diese Diskurse in Aneignung und Ablehnung im Transfer entwickelten und - in einer nächsten Projektstufe - welche medialen Repräsentationen in diesem Prozess an Relevanz gewannen. Der Textkorpus soll diskursanalytisch angegangen werden, für die zweite Projektphase soll mit Hilfe der historischen Bildwissenschaften bzw. interdisziplinär an die Kunstgeschichte angeknüpft und nach dem möglichen Niederschlag von Identifikationen in bildender Kunst und Architektur werden.
Literatur:
Robert Frost, The Northern Wars. War, State and Society in Northeastern Europe 1558–1721. Harlow 2000.
Ilgvars Misāns, Erwin Oberländer, Das Herzogtum Kurland 1561-1795. Verfassung, Wirtschaft, Gesellschaft. Lüneburg 1993.
Ilgvars Misāns, Erwin Oberländer, Kurzeme, Vidzeme, Latgale. Reğions un identitāte vēsturē. Konferences materiāli. Riga 1999.
Erwin Oberländer, Volker Keller:) Kurland. Vom polnisch-litauischen Lehnsherzogtum zur russischen Provinz. Dokumente zur Verfassungsgeschichte 1561- 1795. Paderborn u.a. 2008.
Erwin Oberländer, Agro jauno laiku koncepts un Igaunijas, Vidzemes u Kurzemes vēsture (1561-1795) [Das Konzept der Frühen Neuzeit und die Geschichte Estlands, Livlands und Kurlands 1561-1795]. In: Latvijas Vēstures Institūta Žurnāls, 2012, 3, 22-49.
Erwin Oberländer, Das Herzogtum Kurland 1561-1795. In: Hartmann, Peter-Claus (Hg.): Regionen in der Frühen Neuzeit. Reichskreise im deutschen Raum, Provinzen in Frankreich, Regionen unter polnischer Oberhoheit. Ein Vergleich ihrer Strukturen, Funktionen und ihrer Bedeutung. Berlin 1994, S. 193-207.
Kulturtransfer als Beobachtungsfeld historischer Kulturwissenschaft. Das Beispiel des neuzeitlichen Russland, in: Jan Kusber, Mechthild Dreyer, Jörg Rogge, Andreas Hütig (Hg.): Historische Kulturwissenschaften. Positionen, Praktiken und Perspektiven [Mainzer Historische Kulturwissenschaften. Band 1] Bielefeld 2010, S. 261-285.
Uber, Kord-Henning. “The Duchy of Courland from 1650 to 1737: Transformation of a Religious Borderland in the Baltic Sea Region.” Globalizing Borderlands Studies in Europe and North America, edited by John W. I. Lee and Michael North, University of Nebraska Press, Lincoln; London, 2016, pp. 155–178.
Prof. Dr. Jan Kusber
November 2020
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