Scholler, Prof. Dr. Dietrich, FB 05, Romanisches Seminar, Italienische und Französische Literaturwissenschaft.
Region und Nation im italienischen Petrarkismus des 16. Jahrhunderts: Kontakt und Transfer
In der Divina Commedia setzte der italienische Nationaldichter Dante Maßstäbe für die frühneuzeitliche Diskussion zu den Themen Staatenbildung und Nation. In Petrarcas erzählendem Gedichtzyklus Canzoniere werden Fragen der Nationenbildung am prominentesten in der Kanzone Nr. 128 „Italia mia“ verhandelt. Der Dantebezug in Petrarcas Kanzone ist evident: Sowohl das Thema (Italieninvektive, Fremdherrschaft, Bürgerkriege, römisches Gründungsnarrativ) als auch die rhetorische Durchführung (Italienapostrophe, Appellstruktur, Allegorisierung) verweisen auf den sechsten Gesang des Purgatorio. Aber im Unterschied zu Dante – so meine These – bricht Petrarca mit der Heilsgeschichte und plädiert im Gegenzug offen für die Idee der Nation. Letztere wird jedoch im zweiten Teil des Canzoniere wieder zur Disposition gestellt und weicht einer offenen Figuration, indem nationale und heilsgeschichtliche Aspekte hybridisiert werden. Mit der Erforschung dieser hybriden Konstellation – mit Rückblicken auf Dante – soll die Basis für das Teilprojekt geschaffen werden.
Im Cinqecento verbreitet sich Petrarcas Liebesdichtung im Gefolge der sprachpolitischen Schriften Pietro Bembos in ganz Europa. Das hat die bisherige Forschung dazu bewogen Petrarcas Lyrik den Rang eines europäischen Gründungsmythos zu verleihen. Dabei wird übersehen, dass die von Petrarca gesetzten Themen einen historisch-kulturellen Transfer erfahren. In der Folge entstehen in der Lyrik konkurrierende regionale, nationale oder auch universale Gründungserzählungen. Im Falle Italiens lässt sich – so meine These – zunächst eine protonationale Kanonisierung der volkssprachlichen Liebeslyrik des Diskursbegründers Petrarca feststellen. Davon gehen nationale Effekte aus. Aber in der Gesamtschau bietet die lyrische Praxis des 16. Jahrhunderts kein einheitliches Bild. Die literarischen Figurationen von vorgestellten Gemeinschaften korrespondieren demzufolge mit der auch in anderen Italienprojekten der Forschungsplattform postulierten diskontinuierlichen und vergleichsweise pluralen Entwicklung im fiktiven Staat Italien.
Prof. Dr. Dietrich Scholler,
November 2020
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